INTERPRETATIONSOFFENHEIT - ZWISCHEN TRIVIALITÄT, BELIEBIGKEIT UND EXTREMER VERRÄTSELUNG ALS MANIPULATIVER "KUNSTGRIFF"

Version 2.0, Juli 2013, (Version 1.0, Juli 2012)

"Es begegnete und geschieht mir noch, daß ein Werk bildender Kunst mir beim ersten Anblick mißfällt, weil ich ihm nicht gewachsen bin; ahn' ich aber ein Verdienst daran, so such' ich ihm beizukommen, und dann fehlt es nicht an den erfreulichsten Entdeckungen: an den Dingen werd' ich neue Eigenschaften und an mir neue Fähigkeiten gewahr." (Goethe)

"Malen sagt er, sei eine Art über das Leben nachzudenken, und Voraussetzung für die künstlerische Existenz sei die Fähigkeit zur Meditation, die eine vergleichbare Disposition vom Betrachter verlangt. "Der Sinn eines Werkes beruht auf der möglichen Mitarbeit des Betrachters. Wer ohne innere Bilder lebt, ohne Imagination und ohne die Sensibilität, die man braucht, um im eigenen Innern Gedanken zu assoziieren, wird gar nichts sehen."" (Wieland Schmied, Antoni Tapies: GegenwartEwigkeit, S.76)

"Wenn der Erkennende sich nicht auf genauen und guten Empfang des Erkennbaren einstellt, wie soll dann ein Akt des Erkennens erfolgen können?" (Wieland Schmied)

"Nein, gerade Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen".
(Friedrich Nietzsche)
- oder vielleicht noch zutreffender formuliert?

Welche Bedeutung hat die Eigenschaft "Interpretationsoffenheit" für Werke der bildenden Kunst allgemein- und wie weit ist diese Eigenschaft in den Bereich der Medaillen- und der Reliefkunst sinnvoll übertragbar ? Welche weiteren Eigenschaften sind neben der Interpretationsoffenheit für die Medaille und das Relief auch von herausragender Bedeutung zu ihrer Beurteilung als Kunstwerk- ohne Anspruch auf Vollständigkeit?

"Das Spannende an einem Kunstwerk ist seine Vieldeutigkeit. Es kann aus verschiedenen, vor allem unerwarteten Blickpunkten angegangen werden. Je nach Blickpunkt ergeben sich unterschiedliche Assoziationsfelder, die selbst den Künstler überraschen und indirekt in sein Werk zurückfließen können. Klar, man sollte ein Werk nicht als Mittel zum Zweck benutzen, um eigene Ansichten oder Theorien zu illustrieren. Das geschieht immer wieder und ist ärgerlich.
Die Assoziationsfelder, die sich aus den verschiedenen Blickpunkten ergeben, werden vom Motiv, von der Komposition, vom Gegenstand oder schlicht vom Zeitgeist initiiert und dies geschieht unabhängig vom Medium." ( Zitat aus [1], Seite 9)

"Es gilt für den Künstler dasselbe wie für den Betrachter: Das Impulsive, rein Assoziative, muss einholbar sein von der Reflektion." (Zitat aus [2], Seite 190)

"Die Frage nach der Bedeutung zeichnet die Kunst aus…. Manchmal kann diese Frage nach der Bedeutung so übermächtig werden, dass die Kunst hinter ihr zu verschwinden droht, weil das Deuten wichtiger ist als das Sehen. Umgekehrt allerdings, wenn es beim reinen Kunstgefühl bliebe, wäre auch niemand glücklich. Das eine kann nicht sein ohne das andere: Um zu wissen, worüber man redet, braucht es das Wahrnehmen; um das Wahrgenommene zu erschließen, braucht es das Nachdenken."(Zitat aus [2], Seite 187)

Zunächst: Kunst "muss" gar nichts!

Es ist nicht unbedenklich im Bereich der Kunst eigene Erkenntnisse als verbindlich zu erklären. Nicht wenige Betrachter sind von Werken der bildenden Kunst begeistert, wenn diese möglichst großflächig und farbig sind und "interessante Formen" aufweisen- also abstrakt sind. Sie sind ganz und gar mit dem Impulsiven und Stimmungsmachenden zufrieden und "glücklich". Die Reflexion bezüglich irgendeines Inhaltes ist ihnen fremd oder gleichgültig. Sie lassen sich ganz von den Empfindungen einer sensiblen Künstlerseele leiten und einstimmen. Mit einer auf Interpretation angelegten Vieldeutigkeit des Werkes können oder wollen diese Betrachter nichts anfangen. Wer wollte aber diesen Werken ihre Existenzberechtigung absprechen? Als Kunst können diese Werke mühelos durchgehen- schon allein wegen der Unbestimmtheit des Kunstbegriffes. Viele Freizeitkünstler bevorzugen solche Art von Werken ohne konkrete Aussage und ohne ersichtliche Bedeutung- sie dienen lediglich der Selbstdarstellung . Es scheint uns in diesem Bereich teilweise sehr schwierig oder ganz unmöglich zu sein, in den Werken Originalität und Individualität zu entdecken- sie sind dann schwierig auseinander zu halten. Trotzdem können sie die Funktion einer individuellen Seelenhygiene oder gar Therapie besitzen. Ob man die oben aufgeführten Zitate inhaltlich akzeptiert oder nicht, ist also ganz und gar von der Einstellung des Lesers abhängig.

Ein besonderes Problem bei der Interpretation eines Werkes der bildenden Kunst: Die Bildende Kunst spricht den Betrachter auf eine grundsätzlich andere Weise an als ein literarischer Text und ist deshalb in ihrem Gehalt nicht 1:1 in einen Text übertragbar. Der "Übersetzungsprozess" lässt sich deshalb nur unvollkommen und in Abhängigkeit von den Eigenschaften des Beobachters mehrdeutig übertragen.

 

 

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Aus dem Abschnitt über die Wirkungen der Kunst konnten wir einige für uns im Zusammenhang mit der Eigenschaft "Interpretationsoffenheit" besonders bedeutsame Aussagen über die Merkmale von Kunst entnehmen. von denen wir die für uns wichtigsten hier wiederholen:

[ Lit. 3]:
" Eine (symbolische) Bedeutung. ...

   Ein Element der Phantasie."...

[Lit. 4]:
- intensivierte Selbstwahrnehmung , emotionale Selbstregulation ... und Verbesserung der Selbstklarheit durch den "Gebrauch" der Künste für das Wecken, Steigern , Beruhigen, simulative Ausagieren und reflexive Deuten von Gefühlen;

- Erproben und Neujustieren von Ethiken des Wertens und Handelns im realitätsentlasteten Simulationsmodus;

- Erkunden von (fiktiven) Möglichkeitsspielräumen und Chancen des Andersdenkens und Andershandelns;

- Anregung, Beschäftigung , Herausforderung komplexer kognitiver Verstehensleistungen, einschließlich des Umgangs mit Mehrdeutigkeit und potenziell unendlicher Deutbarkeit. "

[Lit. 5]:
"Künstlerische Bildwelten fordern die Wahrnehmung einer Reihe miteinander verschränkter Merkmale. Hierzu gehören die Interdependenz von Inhalt und Form und, im Zusammenhang damit, die Interpretationsoffenheit, die Komplexität, die Originalität, die Individualität und die Gesellschaftlichkeit, die Geschichtlichkeit."

[Lit. 6]:
"Bilder bieten dem Betrachter, psychoanalytisch betrachtet, ... : "Sehnsüchte, Wünsche und Phantasien, aber auch tabuisierte Gefühle und Impulse. die er ablehnt oder in sich selbst verleugnet, kann er von innen nach außen, auf Bilder, projizieren und dadurch einen "erlaubten" Zugang zu seinem Unbewussten finden. Der Betrachter fühlt sich vom Bild fasziniert und emotional intensiv angesprochen, gerade weil Unbewusstes für ihn "sichtbar-gemacht", d.h. wahrnehmbar und kommunizierbar wird, ohne dass es der eigenen Zensur anheim fällt. Das Dargestellte, Bedrohliche und Unheimliche begegnet ihm in der Außenwelt- im Bild des Künstlers- und nicht als eigener verbotener Triebimpuls, als persönliche, peinliche oder erschreckende Phantasie. Dieser Prozess kann für den Betrachter wie eine Katharsis wirken."

Die hier aufgeführten Merkmale und Wirkungen von "Kunstwerken" sind unmittelbar mit ihrer Eigenschaft "Interpretationsoffenheit" verknüpft- wobei die Interpretation des Werkes durch den Betrachter mit Gefühl und Verstand erfolgt.

 

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  Damit keine Missverständnisse entstehen, was hier unter dem Kriterium „Interpretationsoffenheit“ verstanden wird: Es ist keine direkte 1 zu 1- Entsprechung mit einer Anhäufung von festgelegten Symbolen, etwa im Sinne: „Das ist das bekannte Symbol aus dem "Symbolkatalog"- das bedeutet … und das ist …, das bedeutet“ gemeint. Solche Entsprechungen und Verwendung von Symbolen können im Einzelfall zwar auch vorkommen, sind aber nicht die wesentlichen Komponenten unseres Werks. Die Interpretationsoffenheit eines Werkes entspricht im vorliegenden Kontext einem vielschichtigen und mehrdeutigen Interpretationsangebot, einem Anlass für Assoziationen und Deutungen durch den Betrachter des Werks zu einem bestimmten Thema- also nicht unbestimmt oder beliebig. Interpretationsoffene Werke stellen i.A. Fragen und können den Betrachter anregen, phantasievoll– mit Gefühl und Verstand- zu bestimmten Themen eine eigene Position zu beziehen. Die Interpretation durch den Betrachter wird dabei sich auch über die Zeit auch ändern können- sie wird auch von seiner Stimmung oder seiner momentanen Lebenssituation abhängen. Die Assoziationen können den Betrachter im Gespräch mit einem anderen Betrachter des Werks zu einem Gedankenaustausch der „nichttrivialen“ Art- also nicht nur im Sinne "das ist aber schön; das gefällt mir; wie interessant, das Portrait oder das Gebäude ist aber wirklich gut getroffen!" anregen, wobei auch unterschiedliche Positionen abgegrenzt und einer Klärung zugeführt, sowie Zusammenhänge geknüpft werden können, die sich z.B. nicht nur auf geschichtliche Abläufe oder gesellschaftliche und politische Erscheinungen o.ä. beziehen. Man kann dadurch auch einiges über seinen Gesprächspartner und dessen eigene „Vorstellungswelt“ erfahren.  

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Den Begriff des "Offenen Kunstwerkes" hat Umberto Eco Anfang der 60er Jahre eingeführt.[7]

Allzu beliebig interpretationsoffen gestalteten Werke bewerten wir persönlich äußerst kritisch, es bleibt bei diesen in uns der bohrende Zweifel, ob nicht der "Künstler" bei der Gestaltung des Werks sich ganz bewusst in die prinzipielle Unverständlichkeit geflüchtet und dem Betrachter die Aufgabe übertragen hat, dort noch irgendetwas (vermeintlich) Beziehungsvolles und Bedeutsames zu entdecken- auch wenn das Werk nur der Ausdruck der speziellen Gemütsverfassung einer "Künstlerseele" sein sollte- oder in hohem Maße nur ein Produkt des Zufalls- etwa um etwas als besonders rätselhaft und tiefgründig erscheinen zu lassen. Es drängt sich uns nicht selten in der darstellenden Kunst der Verdacht auf, der Betrachter wird aufgefordert etwas zu suchen, auch dort, wo nichts "verborgen ist- außer etwas, das dem Zufall gleichwertig ist. Falls der suchende Betrachter nichts finden sollte, wird dieser wohl nicht selten umso ehrfürchtiger vom Tiefsinn des Künstlers überzeugt sein. Solche Werke eignen sich allerdings andererseits hervorragend für eine ganz bestimmte Spezies von Kunstdeutern durch- nach unserer Wahrnehmung sehr überzogene, um nicht zu sagen - "an den Haaren herbeigezogene" - Deutungen, ihrerseits die besondere Einfühlsamkeit, Sensibilität und profunde Deutungskunst eines fachkundigen Experten zu demonstrieren. Wer wird bei solchen tiefsinnigen Deutungen es wohl wagen zu widersprechen!? Wir hingegen fühlen uns hierbei eher an Spezialfälle eines Rorschach-Testes inclusive "Interpretation" erinnert. Andererseits haben wir auch für solche Kunstdeuter der besonders feinsinnigen Art durchaus Verständnis und Bewunderung und lesen die Ergebnisse ihrer Bemühungen nicht selten mit Interesse: sie können sehr kurzweilig sein und uns zu ungläubigem Staunen anregen- ebenso wie die Werke, auf die sie sich beziehen.

In diesem Zusammenhang erlauben wir uns noch ein passendes Zitat [8]:

"Ein Werk kann unausschöpflich sein, weil seine Vielschichtigkeit eine unendliche Zahl von Lesarten erlaubt, oder aber, weil es so unausgeformt und schlecht fundiert ist, dass es jede beliebige Deutung erlaubt, mag sie noch so willkürlich und abwegig sein ."

Auch ein Hinweis auf eine Jahresgabe 2010 eines Kunstvereins passt hierzu : Der Schwarzweißdruck von .... zeigt die "Ursubstanz von Foto und Film", den Ausschnitt aus einem Film (ähnlich einem 24x36mm- Format), das allerdings nichts abbildet, sondern nur eine graue Fläche zeigt. Das Filmpositiv ist "sinnbildhaft" leer eine "Projektionsfläche wiederum für den Betrachter, der seine eigene "story" spinnt."

Wir geben zu unseren Werken vereinzelt auch Hinweise, die auf dem Gebiet von sinnvollen und dem Anlass angemessenen Interpretationen einige mögliche Anregungen geben- nicht zuletzt erfolgt das bereits durch den Titel. Diese Hinweise sollen es dem Betrachter etwas erleichtern, einen persönlichen Bezug zu den Motiven und dargestellten Themen herzustellen, damit er dadurch- möglicher Weise - einen unmittelbaren "Sinn" für sich empfinden oder entdecken kann. Dadurch wird natürlich seine eigene Phantasie gefordert- vielleicht erfährt er aber damit über sich selbst etwas.

Eine restliche (subjektive) Unbestimmtheit des Werkes wird und sollte natürlich unauflösbar bleiben .....

 

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Dass die Vorgabe eines möglichen "Interpretationsrahmens", eines Bereiches, durchaus "sinnvoll" für den Betrachter ist, darin wird der Autor diese Zeilen durch einen Artikel in der Beilage "Karriere" der Zeitschrift "DIE WELT" vom 24. Oktober 2009 bestärkt:

"Wie Kreativität entsteht

....Als vierter Irrtum muss gelten: Kreativität bedeutet freies Herumspinnen. Nach dem Motto: "Lassen Sie uns ganz frei nach neuen Ideen suchen." Diese Aufforderung führt meist in eine Kreativblockade. Denn kreativ sein bedeutet, Wissen neu zu netzen. Hierfür muss unser Kopf zielgerichtet nach relevanten Puzzle-Teilen suchen. Ist die Aufgabe zu allgemein formuliert, fällt unserem Kopf das Suchen schwer."

"Einschränkungen fokussieren Probleme. Sie setzen Hürden, die es zu nehmen gilt und liefern so Inspirationen", schrieb Marissa Mayer, Entwicklungschefin von Google in einem Artikel."
(von Uwe Jens Meyer: Das Edison-Prinzip - der genial einfache Weg zu erfolgreichen Ideen, Frankfurt, Campus-Verlag, 2008)

Wer allerdings seine Werke so gestaltet, dass sie weder völlig "geschlossen" oder fast völlig geschlossen, noch beliebig oder fast beliebig interpretierbar sind, sieht sich bei jedem Werk mit einem besonderen Problem konfrontiert:

Was kann, was will er dem Betrachter bei einem bestimmten Werk "zumuten"?

Zu dieser Frage hat der Autor dieser Webseite in dem in einem Buch von Herbert Laszlo, Gründer des IFEG (Institut für experimentelle Glücksforschung), einen interessanten Hinweis gefunden (Das große Buch vom Glücklichsein, [5], http://www.verlag55plus.com ):

Seite 176:
"... . Dazu muss ich Sie daran erinnern, worin Kunst besteht: Kommunikation mit optimaler Belastung. Worin besteht die optimale Belastung? In einer verschlüsselten Botschaft, zu deren Anstrengung der Empfänger oder die Empfängerin eine Anstrengung benötigt, die möglichst genau ihrer Belastbarkeit entspricht.Diese Belastbarkeit hängt von den geistigen Fähigkeiten und dem bisherigen Wissen der Person ab, die die Kunst konsumiert. Es gibt kein Werk, das auf alle Menschen gleichermaßen als Kunst wirkt."

 

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Der Webmaster ist der Auffassung, dass diese Ausführungen einen wichtigen Aspekt der Kunst erfassen - auch wenn er weiß, dass es durchaus auch andere Sichtweisen und Bereiche der Kunst gibt, die sich dieser Betrachtungsweise zu entziehen scheinen. Er räumt auf dieser Grundlage ein, dass er nicht den Ehrgeiz hat, mit den von ihm geschaffenen Medaillen und Reliefs alle Menschen "glücklich zu machen"- er ist schon mit einigen wenigen zufrieden, sogar mit ganz wenigen.

Wir haben auch selbst die Erfahrung einer offensichtlichen Überforderung des Betrachters bei der Interpretation eines unserer Werke ganz direkt gemacht: Dieses Erlebnis hat uns gezeigt, dass der Gestaltungsbereich zwischen "trivial interpretierbar, nicht-interpretierbar" und "beliebig interpretierbar" ziemlich problematisch sein und zu völligem Unverständnis auf Seiten des Betrachters führen kann. Unter "trivial interpretierbar" verstehen wir Werke, die keine oder nur geringe Interpretation zulassen oder ihrer bedürfen, um sie zu "verstehen" - ein Gebäude, ein Portrait, die Darstellung eines bekannten geschichtlichen Ereignisses. Die Übergange zwischen interpretierbar, nicht interpretierbar und beliebig interpretierbar sind natürlich fließend- das Charakteristische eines Kopfes, des Wesen eines Menschen zu erfassen und darzustellen ist eine Kunst- unabhängig von der persönlichen Relevanz des Dargestellten für den Betrachter. Allerdings erscheinen uns Portraits nur sehr begrenzt in einem ziemlich engen Bereich interpretierbar. Beliebig interpretierbare Kunstwerke sind uns aus der bildenden Kunst bekannt, z.B. das Bild als vollständig "weiße Fläche": Weiße Mäuse im Schneesturm? oder Schiffe im Nebel? Das Bild als reine schwarze Fläche ist ebenfalls dem Leser sicherlich bekannt. Auch in der Medaillenkunst sind durchaus vergleichbare Fälle vorhanden.

Die besondere Problematik eines interpretationsoffenen Gestaltungsstiles- eingerahmt durch die oben angegebenen Grenzen- die aber auch eine wertvolle Chance bedingt, besteht nach unserer Auffassung darin, dass die Betrachter der Werke zu sehr unterschiedlichen Auffassungen kommen können- dem einen sind die Werke möglicherweise zu verrätselt, dem anderen vielleicht zu trivial, dem nächsten zu beliebig. Dadurch eröffnet sich die Möglichkeit für mehrere Betrachter eines Werkes, sich untereinander sich über das Gesehene auszutauschen und miteinander ins Gespräch zu kommen- jenseits eines rein geschmacklichen Urteil oder eines Urteils, wie gut bestimmte Fakten, Gebäude, Vorgänge, bekannte Charakterzüge bei einem Porträt, wiedergegeben sind: Das gefällt mir- oder auch nicht, der Kopf ist aber "gut getroffen". Wir verweisen in diesem Zusammenhang nochmals auf die Theorie von Herbert Laszlos, dass ein Kunstwerk eine verschlüsselte Botschaft ist, deren Entschlüsselung bestimmte Menschen optimal belastet:" Jedes Kunstwerk ist für bestimmte Menschen "zu hoch", für bestimmte Menschen "zu primitiv" und für eine dritte Gruppe eben das, als was es gedacht ist: Kunst, die Glücksgefühle auslöst."

Wir merken allerdings hier an, dass Kunst nach unserer Aufgabe nicht unbedingt das Ziel hat, im Menschen Glücksgefühle auszulösen.

Es gibt auch "Grenzfälle" von offenen Kunstwerken- Werke, die aufgrund ihrer Vagheit garnicht oder nur kaum glaubhaft vermittelbar interpretierbar sind. Sie sprechen also nur das Gefühl an. Der Übergang von einem solchen Werk zu einem interpretierbaren Werk ist sicherlich fließend und vom Betrachter abhängig. Diese "Grenzfälle" - abgesehen von ihrer ästhetischen Wirkung- sofern man davon überhaupt sprechen kann- eignen sich jedoch als Anregung zu einer Meditation. Ein Diskurs über diese Werke mit einem anderen Betrachter erweist sich praktisch als nicht möglich- die Werke verweigern sich jeder "literarischen Interpretierbarkeit". Allerdings erwecken diese Werke nicht selten - insbesondere in abstrakter Ausführungsweise- in uns persönlich den Eindruck der Beliebigkeit, teils auch der Einfallslosigkeit, der Zufälligkeit. Was ist das "Besondere" an ihnen? Was zeichnet sie gegenüber den Gegenständen des Alltags aus, die einen zufälligen Veränderungsprozess unterworfen worden sind? Man kann schließlich jedes Ding als Anregung, als Grundlage einer Meditation, einer alleinigen Stimulation eines "reinen" Gefühls, als Stimulans einer Stimmung- schon allein aufgrund der besonderen Wirkung von Farben auf Menschen- heranziehen. Das gilt im Extremfall etwa für eine Fläche mit einer reinen, monochromen Farbgestaltung. Eine weiße Fläche- rein weiß- als allumfassendes Farbangebot eignet sich durchaus, über Gott zu meditieren. Mit schwarzer Farbe kontrastiert, kann man in die Meditation auch noch "das Böse", das "Nichts" einschließen!!! Wir räumen gerne ein, dass wir mit solcherart von Kunst nicht allzuviel anzufangen wissen. Die Kunstkritiken über solche Werke können sich allerdings durchaus vernüglich lesen und zu ganz erstaunlichen, auch äußerst überraschenden Erkenntnissen führen.

Um ein Kunstwerk, das mit einem nichttrivalen, nicht zu leichten, nicht zu schwierigen Interpretationsangebot versehen ist, gerade auch auf längere Dauer für den Betrachter interessant und genussvoll betrachtbar zu halten, erscheint es dem Webmaster wünschenswert, dieses Angebot "mehrschichtig", mit der Möglichkeit eines "Hineinwachsens" anzulegen. Ist die "Belastbarkeit" des Betrachters mit zunehmendem Alter (hoffentlich) aufgrund seiner größeren Lebenserfahrung größer geworden, wird er es vermutlich besonders schätzen, noch weitere Interpretationsschichten und Deutungsmöglichkeiten angeboten zu bekommen. Das "Problem" dabei ist es jedoch für den Gestalter der Medaille, keinen "Kurzwarenladen" von Symbolen anzubieten, sondern einen sinnvoll interpretationsgeeigneten Gesamtzusammenhang mit individuellen Freiheitsräumen für den Betrachter.

 

 

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Eine weitere Eigenschaft eines Kunstwerks, die es zu bedenken gilt, ist seine "Schönheit". Was wirkt auf uns ansprechend, was empfinden wir, was interpretieren wir als "schön"- wobei uns auch das "Hässliche" erfahrungsgemäß durchaus ansprechen kann? Ein weiterer Hinweis auf die Behandlung dieser Fragestellung sei dem Webmaster noch an dieser Stelle erlaubt: Die Geschichte der Schönheit, Herausgeber Umberto Eco; Hanser-Verlag 2004, ISBN 3-446-20478-4). Dort erfahren wir z.B., dass es auch eine "Schönheit" der Provokation geben kann. Zur "Provokation": Nicht wenige Kunstinteressierte fühlen sich besonders von Künstlerpersönlichkeiten angesprochen, die sich durch exzentrisches, absonderliches Auftreten und durch das Brechen von Tabus auszeichnen. Offensichtlich wollen die Begeisterten durch Anteilnahme an der "unbürgerlichen" Welt des Künstlers ihre eigene enge und durch strenge Regeln begrenzte bürgerliche Welt aufregender gestalten und virtuell Grenzen überschreiten. Dem Entwerfer der hier gezeigten Kunstmedaillen und Plaketten sind aufgrund seiner eigenen bürgerlichen Existenz solche Tabubrüche versagt, leider ! :-).

Schönheit wird, sofern sie übertrieben in einem Werk auftritt, sehr leicht langweilig. Schönheit wird zudem seit einiger Zeit auch sogar argwöhnisch betrachtet- sie sei verlogen und diene gar zur Festigung von Herrschaftsverhältnissen. Das ist wohl aber auch nur eine sehr subjektive Interpretation.

 

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Sofern sich der ein Werk Entwerfende entschlossen hat, ein offenes Werk zu realisieren, wird es sinnvoll für ihn sein, speziell für dieses Werk den optimalen "Verschlüsselungsgrad" für die Betrachter, die er erreichen will, zu anzustreben. Andere Gruppen von Betrachtern wird er damit bei diesem Werk nicht erreichen. Der optimale "Verschlüsselungsgrad" ist somit vom gewählten Thema und von der Gruppe von Betrachtern abhängig, von denen der Gestalter wünscht, dass sie sich angesprochen fühlen- letztlich aber von der Absicht des Gestaltenden, ein ihn selbst zufriedenstellendes Werk zu gestalten. Dabei kann also der Verschlüsselungsgrad von Werk zu Werk äußerst unterschiedlich ausfallen.

In nicht wenigen der hier gezeigten Medaillen wird ein Bereich "nichttrivialer" Deutungsmöglichkeiten angeboten.  Dieses Angebot scheint für nicht wenige Betrachter bei Reliefs, Plaketten und Medaillen recht ungewohnt zu sein. Die formale Darstellung- eine ästhetisch orientierte Präsentation- ist für uns sicherlich von Bedeutung, allerdings gibt es in der Regel bei den hier gezeigten Medaillen noch eine oder mehrere inhaltliche Ebenen hinter der Oberfläche.

Die Erfahrung, dass sogar promovierte Experten auf dem Gebiet der Kunstmedaille auch bei- wie wir meinen- recht naheliegendem" Deutungsangebot" offenbar ziemlich ratlos- um es freundlich auszudrücken- sein können, musste der Verfasser bereits bei seiner ersten Teilnahme bei einer Ausstellung im Jahr 2000 machen. Die Abbildung der betreffenden Medaille und der Begleittext des "Interpretierenden" sind in der Veröffentlichung der Deutschen Gesellschaft für Medaillenkunst, Band 11, mit dem Titel Arche 2000, enthalten.

 

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Das Entwerfen von Werken, die sich im Angebotsbereich zwischen einer "simplen, eindeutigen Trivial-Interpretation", "völliger Beliebigkeit" und "zu starker Verrätselung" befinden, ohne schablonenhaftes Deuten aus einem Symbolkatalog heraus, ist also- wie das oben angegebene Beispiel zeigen möge- durchaus nicht unproblematisch. Gerade aber die Gestaltung eines Werkes- ob bewusst oder unbewusst- im Zwischenbereich zwischen zu verrätselt, trivial und beliebig, bietet dem Betrachter die Chance, sich möglichst ohne Über- oder Unterforderung mit einer gewissen Anstrengung selbst einzubringen und dadurch eine persönliche Beziehung zum Werk herzustellen. Ob er diese Chance nutzen will oder kann- ist dann auch von ihm selbst abhängig. Dabei werden zu verrätselte Werke nach unserer Auffassung auf den Betrachter letztlich wie völlig willkürlich konzipierte Werke wirken - beides lässt den Betrachter mit sich allein. Trivial oder unmittelbar eindeutig zu interpretierende Werke unterliegen hingegen- nach unserer Auffassung- leicht der Gefahr, recht schnell langweilig zu werden.

Durch unsere beschriebene Gestaltung der Werke werden- so hoffen wir zumindest- besondere intuitive Wahrnehmungs- und Interpretationsmöglichkeiten und -angebote begründet. Symbole sind im allgemeinen nicht eindeutig, nicht im Verhältnis "eins zu eins" übersetzbar, wie es manche Bücher über Traumsymbole versuchen. Eine angemessene Deutung von Symbolen ist nur in der Beachtung des "Gesamtzusammenhangs" des Dargestellten möglich- damit ist das Denken in Zusammenhängen gefordert. Somit sagt die Deutung einer symbolhaften Darstellung auch etwas über den Interpretierenden und seine individuelle Situation aus- wie wir es bereits oben beschrieben haben.

 

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Das Angebot von Kunstwerken an Betrachter, sich über sie auszutauschen und über sie im Sinne von Erkenntniskunst- unabhängig von ihrem "Kunstcharakter"- zu diskutieren, erscheint nicht nur uns von großer Bedeutung, wir zitieren dazu Wolfgang Ullrich :
"Kunstwerke sollten nicht nur als Kunstwerke gelten dürfen; vielmehr sollte ihre Erschließungsleistung – jener spezifische Blick des Künstlers- im Mittelpunkt stehen, egal ob es sich dabei um ein formales Phänomen, ein soziologisches oder politisches Sujet oder um eine spezifische Stimmung handelt. Ein wesentliches Kriterium von Kunst wäre es dann, ob sich ausgehend von einem Werk eine Diskussion entwickeln lässt, in deren Verlauf es gar nicht mehr um die Frage nach dem Kunsthaften des Werkes geht"[10].

Und welches Thema sollte wohl von größerer Bedeutung für den Betrachter des Kunstwerkes sein, als die Gestaltung eines gelingenden, sinnvollen Lebens?

Das "Sichaustauschen" von Betrachtern über die Inhalte und Deutungen von Medaillen hat übrigens, das sei hier noch nebenbei angemerkt, durchaus Tradition- wenn auch die Art und Weise, wie dies geschah, uns heute eher etwas belustigt:

"Während Herrscher wie Sigismondo Malatesta die Medaillenkunst zu massiver politischer Propaganda einsetzten, beauftragte Leonello den von ihm besonders geschätzten Künstler Pisanello, seine Medaillen mit einer subtilen, symbolisch verschleierten Botschaft zu schmücken. Die Medaillen sollten das Wohlgefallen der gebildeten Empfänger erregen und ihre Gedanken ebenso beflügeln wie die gravierten Gemmen in Decembrios Dialog den Anlass zu lehrreichen, mit Erläuterungen lateinischer und griechischer Begriffe gespickten Unterhaltungen gaben. Diese ferraresische Eigenart assoziativer Verknüpfungskunst, sich allegorischer Abbildungen und mitunter auch der Etymologie bestimmter Wörter zu bedienen, ... . Die Vermutung liegt nahe, dass sich die höfischen Kreise Ferraras der Kunstwerke häufig als "Konversationsstücke" bedient haben ". [11 ]


Die Medaille, auch die Kunstmedaille, wird in der Gesellschaft gegenwärtig kaum als Kunstwerk wahrgenommen. Die Gründe dafür sind sicherlich vielfältig. Als ein mögliches Kriterium zur Beurteilung der Eigenschaften der Medaille als "Kunstwerk" haben wir unsere Betrachtung speziell auf die potentielle Wirkung des Werkes auf den Betrachter unter der Betonung der Eigenschaft "Interpretationsoffenheit" ausgerichtet. Für eine umfassendere Beurteilung der Qualität und der Eigenschaften der Kunstmedaille, wobei die Interpretationsoffenheit nur ein Kriterium von mehreren ist, erscheint uns ein Blick- über den Tellerrand hinaus- auf die Kriterien der bildenden Kunst , unter Ausschluss einiger "moderner", sehr manipulationsanfälliger Kriterien, eine plausible Ausgangsbasis zu sein.

Ergänzung :

Zur zusätzlichen Begründung der Bedeutung, die wir der "Interpretationsoffenheit" für unsere Werke beimessen, stellen wir dieses Kriterium im übergreifenden Zusammenhang mit der bildenden Kunst dar, was wir durch Zitate aus diesem Bereich unterstützen.

Eine gewisse Sonderstellung nehmen nach unserer Auffassung die "transzendenten Werke" ein, die "das Unaussprechliche, das Unvorstellbare, das Unsagbare" zum "Gegenstand" haben und bei denen ein Gedankenaustausch zwischen den Betrachtern solcher Werke schon allein wegen der Unzulänglichkeit der Sprache auf besondere Schwierigkeiten stößt. Dadurch ist die Gefahr von Missverständnissen einerseits- andererseits aber auch die Gefahr einer verbalen "Hochstapelei" seitens der Künstler, aber auch der "Kritiker", relativ groß. Es wäre auch sehr merkwürdig, wenn dies bei teilweise völlig fehlender Nachvollziehbarkeit der Aussagen über solche Werke nicht der Fall wäre. Ein wenig erinnert uns dies an den Vertrieb von undurchsichtigen Finanzderivaten unserer Zeit- bei denen häufig auch ein "Wortgeklingel" zur Steigerung der allgemeinen Wertschätzung eingesetzt wurde. (If you cannot convince, confuse)



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LITERATUR:

[1] Jean- Christophe Amman: Bei näherer Betrachtung - Zeitgenössische Kunst verstehen und deuten,Westend Verlag,2007, ISBN 978-3-938060-21-6

[2] Hanno Rauterberg:Und das ist Kunst? Eine Qualitätsprüfung, Seite 190, S.Fischer Verlag, 2007,ISBN 978.3-10-062810-7

[3] Thomas Junker , Sabine Paul: Der Darwin Code ; Die Evolution erklärt unser Leben, C.H.Beck, 2009, ISBN 978 3 406 58489 3

[4] Winfried Menninghaus : Wozu Kunst ?; Ästhetik nach Darwin , Suhrkamp Verlag, 2011, ISBN 978-3-58565-8

[5] Richtlinien und Lehrpläne Kunst : Gymnasium Sekundarstufe I - in Nordrhein -Westfalen, Heft 3405,4/1993, ISBN 3-89314-297-5

[6] Marianne Leuzinger-Bohleber: Der Bildbegriff in der Psychoanalyse; Aufsatz in: Stefan Majetschak, Hrsg., Bildzeichen - Perspektiven einer Wissenschaft vom Bild, Wilhelm Fink-Verlag, 2005, ISBN 3-7705-4205-3

[7] Karlheinz Essl: Plädoyer für "Das Offene Kunstwerk" (Internet)

[8]Alberto Manguel: Bilder lesen , Seite 263. Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2001, ISBN 3 499 23199 9

[9] Herbert Laszlo: Das große Buch vom Glücklichsein, Verlag 55 Plus Buchverlagsgesellschaft mbH, Wien. 2005, ISBN 3-902441-22-4

[10] Wolfgang Ullrich: Gesucht Kunst, Verlag Klaus Wagenbach Berlin, 2007, ISBN 978-3-8031-2577-4

[11] Alison Cole: Renaissance von Mailand bis Neapel ; Die Kunst an Höfen Italiens, DUMONT - Verlag, 1996, ISBN 3-7701-3748-5

 

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