"Rezeption ist bekanntlich nicht zu trennen von Interpretation. Interpretation aber wird allzuoft als eine rein geistige Übung gedacht, als isolierter Vorgang, der, gleich, ob er sich schriftlich niederschlägt oder nicht, keine Auswirkungen auf andere Aspekte des Lebens hat, außer vielleicht auf andere Interpretationen. Allein, ob wir eine Interpretation eigenständig entwickeln oder von anderen übernehmen, ob wir das solcherart interpretierte Werk ganz oder teilweise bejahen, ablehnen oder mit Gleichgültigkeit betrachten- die Sache ist unendlich viel komplexer, als wir glauben möchten.

Sich eine Werksinterpretation zu eigen machen bedeutet- unabhängig davon, ob ein philosophisches Werk oder ein Kunstwerk in Rede steht und ob die Interpretation unsere eigene oder eine fremde ist- weit mehr, als sich der Überzeugung hinzugeben, sie sei richtig und angemessen, und es dabei bewenden zu lassen. Zum einen ist das Sich-Aneignen einer Interpretation kein punktueller Vorgang, sondern umfasst eine längere Zeitspanne; zum anderen muss man sich dafür nicht nur zu dem Werk, sondern auch zu vielen anderen Aspekten des Lebens ins Verhältnis setzen, wozu auch, aber nicht nur, andere Interpretationen zählen: Meine Deutungen wirken sich in der unmittelbarsten praktischen Weise auf mein Leben aus. So sicher ich mir deshalb auch immer sein mag, dass die von mir angenommene Interpretation die richtige ist, so wenig Sicherheit kann ich bezüglich ihrer Auswirkungen auf mein Leben oder auf das Leben anderer, die ich gleichfalls von ihr überzeugen möchte, je gewinnen. Wie jede unserer Vorstellungen, so ist auch jede einzelne unserer Interpretationen mit jedem anderen Bestandteil unseres Lebens eng verknüpft und zeitigt weitreichende Folgen. Sie tingiert unsere Erfahrung, verleiht ihr Form und Struktur und macht einen Teil dessen aus, was wir sind.

Sich eine Interpretation zu eigen zu machen ist etwas Komplexeres, als etwa ein Gefühl- oder sogar die Überzeugung- zu hegen, dass diese Interpretation zutreffend, gültig , angemessen oder erhellend sei; es hat ernsthafte Implikationen für unser ganzes weiteres Leben. Vor allem ist hier hervorzuheben, dass es für die eigenständige Entwicklung bzw. Übernahme einer Interpretation nicht ausreicht, sie zu bejahen- man muss sie sich selbst erarbeiten."

Alexander Nehamas : Kritik der Lebenskunst (Herausgeber Wolfgang Kersting, Claus Langbehn), suhrkamp, 2007, ISBN 978-3-518-29415-4