WERK UND BETRACHTER

Wir haben bereits erwähnt, dass wir mit einer gewissen Unbefangenheit den Blick aus der Reliefkunst und Medaillenkunst heraus in andere Gebiete richten wollen. Da wir die Eigenschaft "Interpretationsoffenheit" etwas näher betrachten und dies unmittelbar auch damit zusammenhängt, wie der Betrachter mit dieser Eigenschaft eines Werkes umgeht, werden damit psychologische Fragen berührt. In der "Wissenschaft vom Bild" , die in diesen Jahren sich etabliert, hat man solche Fragen bereits etwas näher betrachtet und darauf auch Antworten gefunden. Da wir die Ergebnisse hierzu unmittelbar vom "Bild" auf das "Relief" übertragbar halten, zitieren wir aus den Ergebnissen einer empirischen Studie. Ersetzen Sie deshalb bei dem nachfolgenden Zitat lediglich "Bild" durch "Medaille" oder "Relief".

Das folgende Zitat wurde dem folgenden Aufsatz entnommen:

Ernst-D. Lantermann: Bild und Handlung, Annäherung an eine Bildwissenschaft aus psychologischer Perspektive, enthalten in: Stefan Majetschak, Hrsg. : Bildzeichen - Perspektiven einer neuen Wissenschaft vom Bild, Wilhelm FinkVerlag, 2005, ISBN 3-7705-4205-3

Seite 185:

Eine Frage, die in einer Arbeitsgruppe des Autors in einer empirischen Studie bearbeitet wurde, war eine Analyse des Zusammenhangs zwischen einzelnen Merkmalen des Betrachters und der Art seiner Perzeption von Bildern und deren Beurteilung. Unter anderem nteressierten mögliche Auswirkungen der Unbestimmtheitstoleranz auf die Interpretation und Bewertung von Bildern. "Unbestimmtheitstoleranz" meint die bei unterschiedlichen Menschen unterschiedlich ausgeprägte Neigung, mehrdeutige Objekte, Ereignisse und Situationen entweder als Herausforderung zu begreifen , diese bevorzugt aufzusuchen und sich in solchen "unbestimmten" Situationen wohlzufühlen oder aber, im Gegenteil, sie als Bedrohung aufzufassen, als Situationen, die man meiden sollte und in denen man sich unwohl fühlt. Unsere Ausgangsfrage lautete: Welche Bildaspekte werden von unbestimmtheitstoleranten, welche von unbestimmtheitsintoleranten Personen in ihren Wahrnehmungen akzentuiert, und welche Bilddimensionen fließen- in Abhängigkeit von der Unbestimmtheitstoleranz- mit welchem Gewicht in ästhetische Präferenzurteile ein?"

Einige Ergebnisse seien knapp berichtet::

(a) Unbestimmtheitstolerante finden Bilder dann ästhetisch befriedigend, wenn sie die Wirkung der Bilder als"irritierend", "zu ungewohnten Empfindungen anstachelnd" oder als Chance zu "emotionalen und kognitiven Erweiterungen des eigenen Horizontes" erleben. Unbestimmtheitsintolerante Betrachter bevorzugen dagegen Bilder mit beruhigender, stabilisierender Wirkung, die Ihnen eine Bestätigung des Gewohnten und Gewussten signalisieren.

(b) Verschiedene Ausprägung der Unbestimmtheitstolerenz korrespondieren mit unterschiedlichen Wahrnehmungen von Bildern.Der Unbestimmtheitstolerante "übersieht" bei vielschichtigen Bildern häufig deren "Bestimmtheitsgehalt", also das Vertraute, Bekannte, der Unbestimmtheitsintolerante dagegen das Irritierende, Neue, Unbekannte an den Bildern.

Die "Sinnstiftung" und Bewertung von Bildern wäre nach dieser Befundlage also das Ergebnis einer systematischen Wechselwirkung zwischen Bild- und Personmerkmalen und daher weder allein aus der Eigenart des Betrachters noch aus der Eigenart des Bildes heraus zu verstehen.

Andere personale Eigenarten oder Merkmalke, die in psychologisch-ästhetische Studien einflossen, sind unterschiedliche "Weltbilder", "Denkstile" oder individuelle Lebensstile."

Ende des Zitates

 

 

 

Mit unseren Werken setzen wir also auf die "Unbestimmtheitstoleranten", die wir hoffentlich "zu ungewohnten Empfindungen anstacheln" und denen eine Chance zu"emotionalen und kognitiven Erweiterungen des eigenen Horizontes" geben. Irritierend sind nach unserer Auffassung nicht wenige unserer Werke- nur muss man es überhaupt wahrnehmen können .... Die Unbestimmtheitstoleranz ist jedoch, wie es aus dem letzten Teil des Zitats bereits hervorgeht, nur eines von mehreren Persönlichkeitseigenschaften, die ein Urteil des Betrachters maßgeblich beeinflussen. Nach unserer Auffassung gibt es jedoch noch weitere Eigenschaften des Betrachters, insbesondere auch der "Kunstkritiker", die über die im letzten Satz des Zitats aufgeführten Eigenarten oder Merkmale hinausgehen, welche die Rezeption und Beurteilung eines Werkes beeinflussen. Diese Eigenarten und Faktoren werden teilweise an anderen Stellen der Webseite erwähnt. Hierzu mag sich der Leser seine eigene Auffassung bilden.

Für den Betrachter könnte sich an dieser Stelle die Frage ergeben, wie die der vorwiegend numismatisch in seinen Interessen orientierte Betrachter hier einzuordnen ist. Ob diese Frage überhaupt berechtigt ist und welche plaubsible Antwort darauf zu geben wäre, wollen wir jedoch ebenfalls dem Leser überlassen und ihm hierzu unsere eigene Auffassung nicht aufdrängen.

Das oben angegebene Zitat verweist uns im letzten Satz mit dem Begriff "Denkstil" zu einem weiteren aufschlussreichen Zusammenhang, der für Beurteilungen allgemein- offensichtlich auch für "Kunstwerke"- gilt:

Dabei beziehen wir uns auf den Intelligenz- und Begabungsforscher R. Sternberg. Er definiert den Begriff „Stil“. Ein Stil ist für ihn eine Art zu denken: „Nicht eine Fähigkeit, sondern eher eine bevorzugte Art, die vorhandenen Fähigkeiten einzusetzen.“ ((1), s.u.).

„ Im Grundlagenbuch Thinking Styles (1997,(s.u.), S.158 f.) führt Robert Sternberg aus, wodurch sich Stile auszeichnen: Stile sind wichtig. Oft werden sie mit Fähigkeiten verwechselt. So werden … Menschen als inkompetent betrachtet, nicht weil sie etwa unzureichende Fähigkeiten haben, sondern weil ihr Stil nicht dem derjenigen entspricht, die die Fähigkeiten beurteilen.“

„Stile, die in einem Umfeld als wertvoll gelten, sind dies in einem anderen Umfeld vielleicht nicht“.

„Stile sind meistens nicht einfach gut oder schlecht- es ist mehr eine Frage der Passung."

Diese Aussagen lassen sich plausibel und sinngemäß an die hier vorliegende Situation einer Beurteilung von Kunstwerken anpassen - auch wenn der Leser hier zunächst einwenden mag, dass es sich bei Sternberg um Denkstile handelt und eine Übertragung dieses Ansatzes auf Kunstexperten oder gar auf eine Auswahljury für Kunstwerke unangemessen wäre: Sicherlich haben bei einer Beurteilung und Auswahl von Kunstwerken noch andere Faktoren - wie bereits erwähnt- eine Bedeutung. Das spricht aber nicht gegen die grundsätzliche Übertragbarkeit des Ansatzes von Sternberg. Wie will der Leser sonst die teilweise völlig konträren Ansichten hinsichtlich der Qualität von Kunstwerken durch „kompetente“ Kunstexperten zu bestimmten Stilrichtungen und zu konkreten Kunstwerken erklären? .

Literaturhinweis:

(1) Stednitz, Ulrike; Mythos Begabung, Huber Verlag Bern, ISBN 978-3-456-84445-9

(2) Sternberg, R. Thinking styles, Cambridge university Press, 1997

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