"Ein (...) Vorurteil besagt, eine Analyse durch Worte lähme intuitives Schaffen und Verstehen. Auch diese Behauptung enthält einen wahren Kern. Die Geschichte der Vergangenheit und die Erfahrung der Gegenwart liefern viele Beispiele für die von Formeln und Rezepten herbeigeführte Zerstörung. Sollten wir aber daraus schließen, dass in der Kunst die eine geistige Fähigkeit außer Kraft gesetzt werden muss, damit die andere wirksam werden kann? Ist es denn nicht so, dass es genau dann zu Störungen kommt, wenn eine geistige Fähigkeit auf Kosten einer anderen arbeitet? Das feine Gleichgewicht aller Kräfte eines Menschen- das ihm erst ein volles Leben und ein gutes Arbeiten ermöglicht-gerät nicht nur in Unordnung, wenn der Verstand die Intuition behindert, sondern ebenso, wenn der Verstand die Intuition verdrängt. Ein Herumtappen im Unbestimmten ist ebenso unproduktiv wie ein stures Festhalten an den Regeln. Eine ungezügelte Selbstanalyse kann schaden, aber das kann auch der künstliche Primitivismus dessen, der sich weigert, zu verstehen, wie und weshalb er arbeitet. Der moderne Mensch kann und muss daher mit einer beispiellosen Selbstbewusstheit leben. Vielleicht ist die Aufgabe, zu leben, schwieriger geworden, aber es gibt keinen Weg, der daran vorbeiführt."

Rudolf Arnheim: Kunst und Sehen, Seite 3, de Gruyter, 2000, ISBN 3-11-016892-8

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